5. Juli 2012

3000 Kilometer in drei Tagen (2)

Die Europameisterschaft 2012 ist nun Geschichte. Auch ich war vor Ort und erlebte grandiose und skurrile Dinge. In dieser dreiteiligen Serie berichte ich Euch von einem Roadtrip nach Lemberg: 3000 Kilometer innerhalb von drei Tagen, die ich so schnell nicht mehr vergessen werde.

Tag 2: Timoschenko & Timoschtschuk, ein deutscher Sieg und ein Bengalo-Bastler


Wir verließen dieses so gastfreundliche Land nach einer Nacht im Hostel gegen Vormittag. Eingeplant waren drei Stunden reine Fahrt sowie zwei Stunden Warten an der polnisch-ukrainischen Grenze. Aus den angedachten drei Stunden wurden ganze sieben. Glücklicherweise aber veranschlagte der Grenzübertritt nicht viel mehr Zeit als 15 Minuten. Direkt nachdem wir das Grenzareal betraten, leitete man uns auf eine eigens angelegte Spur für EM-Touristen. Als Erkennungsmerkmal diente wohl neben dem Berliner Nummernschild auch die deutsche Beflaggung auf dem Dach unseres Vehikels. Die im Vorfeld eilig für den Aufenthalt in der Ukraine abgeschlossene Reisekrankenversicherung hielt ich zwar dem Grenzbeamten demonstrativ unter die Nase, wurde aber eiskalt ignoriert. Endlich erreichten wir Lemberg oder wie der Ukrainer sagt: Lwiw. Die siebtgrößte Stadt der Ukraine mit ca. 730 000 Einwohnern gefiel im typischen post-sowjetischen Baustil. In der Innenstadt, wo unser Hostel gelegen war, konnten wir uns nur im Schneckentempo vorwärts bewegen. Polizisten führten durch den dichten Verkehr, winkten uns durch die zahlreichen Absperrungen und die unglaublichen Anzahl an Einbahnstraßen. Am Wegesrand grüßten Plakate von Julia Timoschenko und Anatoly Timoschtschuk. Das Hostel lag in unmittelbarer Nähe zum Teamhotel der Deutschen, wo sich bereits einige Stunden vor Abfahrt eine große wartende Menschenmasse angesammelt hatte. Inmitten dieser Traube von singenden Fans entdeckte ich ZDF-Sportstudio-Moderator Michael Steinbrecher. Auch wir warteten vor dem „Nobilis", um einen Blick auf Schweinsteiger, Lahm & Co zu erhaschen. Doch leider ließen Jogis Jungs zu lange auf sich warten. So oder so wäre es, aufgrund zahlreicher Polizisten und Absperrungen, beinahe unmöglich gewesen, einen der Spieler zu erblicken.

Zwei Stunden vor Spielbeginn meldete sich der Hunger. Ein Restaurant mit Plätzen im Freien versorgte uns u.a. mit der landestypischen, aber gewöhnungsbedürftigen Gemüsesuppe „Borschtsch", welche aus Roter Bete zubereitet wird. Immer wenn uns eine Horde Dänen entdeckte, hissten sie ihre rot-weiße Fahne und sangen in beinahe akzentfreiem Deutsch: „Schade, Deutschland, alles ist vorbei!" Dass bald für sie die Heimfahrt anstand, konnten sie ja noch nicht wissen. Das Essen ließ auf sich warten. Die Zeit verrann so schnell, dass die Uhr plötzlich nur noch eine Stunde bis zum Anpfiff anzeigte. Die „Arena Lwiw" liegt ca. 20 Minuten außerhalb der Stadt. Eigentlich sollten Bus-Shuttles die Fans von der Innenstadt zur Spielstätte bringen. Doch waren die offiziellen Routen zu verstopft, um pünktlich zum Anpfiff auf seinem Platz zu sein. Nach einigen Fehlversuchen fanden wir endlich ein Taxi, dass uns für 20 Euro ins Stadion brachte. In bester Sebastian Vettel-Manier bretterte der Fahrer mit 90 Sachen durch die Innenstadt. Er überholte rechts, bog Reifen quietschend in Kurven und fuhr wohl jeden erdenklichen Schleichweg den er kannte. Heilfroh noch am Leben zu sein, erwartete uns noch ein Fußmarsch von gut 15 Minuten. Die Uhr sagte Punkt 21.30 Uhr Ortszeit. Schnell wurden dänische, deutsche aber auch viele ukrainische Anhänger überholt. Bier- und Souvenirverkäufer passiert und eindeutig rechts-radikale Zuseher, mit einschlägigen Haarschnitten, Kleidungen und Tätowierungen, links liegen gelassen. Wir rannten, ich verlor meine Perücke in Deutschlandfarben, wir passierten den Eingangsbereich und die Sicherheitskontrolle, sprinteten die Treppen hoch, organisierten fix ein kühles Bier und standen pünktlich zu Beginn der deutschen Nationalhymne auf unseren Plätzen. Was für ein Timing! Glücklicherweise besorgten Jubilar Lukas Podolski und Newcomer Lars Bender den deutschen Anhängern einen erfreulichen Ausgang der Partie. Die anhaltenden Anfeuerungsrufe in unserem Block wurden nur einmal durch das zwischenzeitliche 1:1 der Dänen unterbrochen. Nach Schlusspfiff brachten 15 Busse die Anhänger der deutschen und dänischen Farben zurück ins Lemberger Stadtzentrum. In der Innenstadt feierten deutsche, dänische und ukrainische Fans. Immer wieder hielten die Ukrainer an, zupften am Trikot, an der Hawaii-Kette in Deutschland-Farben oder dem Schal mit dem Bundesadler drauf und formulierten in gebrochenem Englisch „Can i have this?". Diesem Charme konnte man nur schwer wiederstehen. Nach drei liebevollen Anfragen hatten wir all unsere Fanartikel verschenkt. So mussten sich die Einwohner mit Fotos begnügen, die sie immer wieder von uns Deutschen schießen wollten. Vor einer Kneipe ereignete sich eine wunderbare Aktion: Es versammelten sich deutsche, dänische und ukrainische Fußballfans zu einem spontanen Flashmob. Unserem genialen Taktgeber ist es zu verdanken, dass wir mindestens 15 Minuten lang ein „Humba-Humba" zelebrierten. Nicht nur die deutsche Elf wurde gefeiert: Auch die Polen und die Ukrainer bekamen ein inbrünstiges „Polskaaa!" und „Ukraiinaaa!" zu hören, was so manchem Lemberger Passanten die Tränen in die Augen trieb. Nie zuvor habe die Frau jenseits der Fünfzig, die gerade an der besagten Kneipe vorlief, eine solch ausgelassene Stimmung in ihrer Heimatstadt erlebt.

Zu später Stunde kehrten wir in unser Hostel zurück. Sascha, der selbsternannte „Hostelmaster", begrüßte uns samt einem weiteren deutschen EM-Touristen an der Tür mit einer Alkoholfahne. Torkelnd geleitete er uns in die Küche. Wir sollen doch noch einen der „besten Wodka der Welt" mit ihm trinken. Je tiefer Sascha ins Glas blickte, desto offener wurde er. „Ich besitze gar keine Lizenz für das Hostel", warf er plötzlich in die Runde. Nur dank „einigen Hundertern" dürfe er die Wohnung vermieten. Doch nicht nur das: Der sympathische junge Mann outet sich als bekennender Rauchbombenbastler. Eine Vielzahl der Rauchschwaden im Lemberger Stadion gingen auf seine Kappe, erzählte Sascha mit reichlich Stolz in der Stimme. Ich frug ihn, ob er mir nicht ein Exemplar zeigen könne. „Kein Problem", so seine Antwort und schwupp war er in einer Ecke des Raumes verschwunden. Hier lagert Sascha seine „Schätze" in einem feuerfesten Safe. Sicher ist sicher. Er präsentierte mir die kaum 20 Zentimeter großen Stangen und fügte hinzu: „Ich kann alle Farben herstellen. Nur für Blau fehlen mir momentan die Zutaten." Sein Rekord waren übrigens 30(!) gezündete Bengalos während eines Spiels von Karpaty Lwiw. Ein Großteil der Bomben fand den Weg auf den Rasen. Die besagte Partie wurde übrigens nach kurzer Zeit abgebrochen. Auch gab Sascha mir noch einen wertvollen Tipp in Sachen Hereinschmuggeln: „Ich verstecke die Teile immer zwischen meinen Beinen. Fragt mich ein Sicherheitsmann, warum es dort so hart sei, sage ich ihm, sein Abtasten habe mir so gut gefallen – und schon bin ich drin!"

[Bilder: Tobias Ilg]

Auch erschienen bei SPOX.com

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