5. Juni 2012

"2:0? Ist ja auch gewonnen!"

Beruflich zog es mich die Tage nach Bremen. Neben der Arbeit die es zu verrichten gab, wurden selbstverständlich die Weser und die Bremer Stadtmusikanten begutachtet. Der Abend allerdings stand im Zeichen der Nationalmannschaft: Gegen Israel stand ein letzter Vorbereitungskick für die in nicht einmal mehr einer Woche beginnenden Europameisterschaft auf dem Programm. Da das Hostelzimmer außer Kakerlaken nichts zu bieten hatte und der norddeutsche Regen mir keine Chance ließ, nach einer vernünftigen Kneipe zu suchen, blieb nur eine Option offen: Eine Spielunke in unmittelbarer Nähe der Unterkunft.

Schon die Inneneinrichtung war alles andere als einheitlich: Neben Wasserpfeifen und Dartscheiben prangerten Fanschals aller erdenklichen Teams. Der MSV Duisburg grüßte genauso von der Bar wie ein Stofffetzen von Denizlispor aus der Türkei. Absolutes Highlight allerdings war eine Büste des ersten Reichskanzlers des Deutschen Reiches Otto von Bismarck aus Porzellan. Eine sehr freundliche Bedienung mittleren Alters nahm sich mir zügigst an: "Wir haben noch zwei Minuten Happy Hour. Das Haake Beck in 0,4 für 1,40 Euro - das müssen se' nutzen!" Dieses unglaubliche Schnäppchen konnte ich mir selbstredend nicht entgehen lassen. Kaum dreißig Sekunden später hatte ich zwar ein frisch gezapftes Bier vor mir stehen, die Distanz zum Fernseher war aber so groß, dass die Herren Lahm & Co auch gut weißgekleidete Ameisen hätten sein können. Gott sei Dank bemerkte die Bardame mein Augenkneifen und hilfloses Starren und fuhr geschwind die Leinwand herab. "Läuft det auf Sky?", fragte sie mich. Ich entgegnete ihr, dass die Partie ausschließlich bei der ARD übertragen wird. "ARD? Hamma nech. Wir ham nur das Erste!"
Nach minutenlangem Zappen war es schließlich vollbracht. Der Beamer warf die Begegnung Deutschland gegen Israel pünktlich zu Spielbeginn an die Wand. Leider erschwerte die unglaublich laute Schlagermusik das Hören der Nationalhymnen. Gelegentliche "Deutschland, Deutschland über alles"-Rufe klangen dennoch hindurch. Das Niveau in der Kneipe war tief - das Spiel konnte also nur besser werden. Der Ball rollte. Hiervon unbeeindruckt versuchte der ansässige Dartverein immer wieder Pfeil für Pfeil auf das Bullseye zu feuern. Nach gespielten 15 Minuten hatten die acht verbierbauchten Proleten, welche von Mandy, einer unförmigen Puderquaste, als Maskottchen unterstützt wurden, genauso viele Bierflaschen geleert. Mit jedem Schluck scheiterten die Versuche immer grandioser. Die Bardame schien mittlerweile verzweifelt, war doch der Vorrat an Flaschenbier bereits aufgebraucht. Doch auch hier wusste sie sich zu helfen und servierte Klopfer en masse. Immerhin waren nun die Klänge von Andrea Berg und Wolfgang Petry verschwunden. So konnte ich nun vernehmen, wie Kommentator Steffen Simon über ein mögliches Vorrundenaus der Deutschen und den sieben bayrischen Schützlingen in der ersten Elf schwadronierte. Bei diesem seichten Geschwätz blieb es leider nicht. Die eingangs erwähnte Mandy schaltete sich ein. Ihr maschinengewehrartiges Geplapper traf leider auch mich. Eine Salve schlug direkt in meinem Gehörgang ein: "Oh, so schade, dass ich und Petzy letztens nicht 32 Stunden durchgefeiert haben!" Uff.
Die Partie dümpelte vor sich hin. Den Deutschen gelangen nur wenige gute Aktionen. Was vielleicht auch an der Tatsache lag, dass Bastian Schweinsteiger das Spiel von der Reservebank verfolgte. Als dieser eingeblendet wurde, grüßte ihn ein Kneipenbesucher, der gerade auf dem Weg zum mit Fußballtor und Ball dekorierten Pissoir war, mit dem Mittelfinger. Hinter mir wurde statt über Manndeckung über das Decken nach der letzten Party gequatscht. Unverständlich, da die Nichtberücksichtigung Mats Hummels für die erste Elf doch von viel größerer Bedeutung hätte sein müssen! 
Aushalten konnte man dieses Klientel nur mit Bier. Meine "Alster"-Bestellung aus süddeutschem Mund löste an der Theke einen frenetischen Jubelschrei aus, der sich erst wiederholt, kurz darauf aber wieder verstummte, als Jérôme Boateng in der 20. Minute beinahe sein erstes Tor im Nationaldress erzielte. Doch statt in die Maschen, klatschte der Ball an den Pfosten. Dieser Knall ließ die Besucher der Spielunke erwachen: Statt den Plan auszufeilen, Mandy zur Hostess auszubilden, fachsimpelten nun Pseudofußballer und Profi-Dartspieler im schlimmsten Stammtischgekeife über die Leistung von Gomez und Konsorten. Als dieser im Vollbild erschien, ließ sich unerwartet ein Gast mit zwei Millimeterhaarschnitt zu selbstkritischen Worten hinreißen: "Jedes Mal nach dem ich beim Friseur war, sehe ich ziemlich beschissen aus." Die 16:9-füllende Ansicht von Mesut Özil ließ seinen Beisitzer ebenso selbstreflektierende Aussagen treffen: "Ich bin Moslem, Alter, ich darf nicht trinken - zumindest donnerstags." Nun denn. Leider passte sich Kommentator Simon dem Niveau der Dampfplauderer im Kneipeninneren an. "Wenn jemand einen gerissenen Faden gefunden hat, dann ist es der der deutschen Nationalelf." Dem bestfrisierten Gomez gelang es in der 40. Minute, das verlorene Stück Garn wiederzuentdecken: Nach Vorlage von Müller netzte der Bayern-Stürmer zum 1:0 ein. Sofort schallten die ersten "Weltmeister, Weltmeister"-Rufe durch den verrauchten Raum. Scheinbar machte sich nun die erste Vorfreude auf die WM 2014 in Brasilien breit... 
Die Halbzeitpause wurde genutzt, um sich über einen scheinbaren kulinarischen Hotspot Bremens auszulassen. Der griechische Schnellimbiss ums Eck sei wohl der beste der Stadt: "Die Portion Pommes und der Gyros krisse für 6 Euro. Das is' so viel, die krisse gar nich alle!"
Die Zweite Hälfte begann munterer, da sich die Israelis nun doch entschlossen hatten mitzuspielen. Neuer rettete zweimal per Flugparade, Özil verpasste das 2:0 im Gegenzug nur knapp. Die Kneipengäste löschten diese heißen Szenen mit neuem, extra in Fässern herbeigeschafften Gerstensaft. Einige Minuten später schob Müller eine 100-prozentige Chance am Tor vorbei. "Hat der Froschfüße?", so der Kommentar meines Nebensitzers. Fortan sollte das Bayern-Bashing bei jeder nur im Ansatz missglückten Aktion eines Roten einsetzen. Er selbst trug eine Vereinsbrille von Bayer Leverkusen, welche Ähnlichkeiten mit den übergroßen Modellen aufwies, die "Posh-Spice" Victoria Beckham zuhauf in ihrem Kleiderschrank bunkert. Ein Castro, Kießling oder auch Rolfes sollten seiner Meinung nach im Kader der Löw-Elf stehen. Nicht, wie von mir angenommen, in einem auf fünfzig Mann erweitertem Aufgebot, sondern in der 23er Auswahl! Dank André Schürrle hatte ich nun auch keine Chance mehr mit Gegenargumenten. Als dieser das 2:0 mit einem satten Distanzschuss erzielte, freute sich unter den restlichen vier Kneipenbesuchern mein Kollege mit dem Bayer-Kreuz im Herzen am allermeisten. Er sprang jubelnd auf, klatschte ab und forderte im gleichen Moment die Ablösung Podolskis auf der linken Seite durch eben jenen Schürrle. "Na siehste? Es geht ja auch ohne Bayern-Spieler! Stammplatz für Schürrle!" Sonst noch etwas? Kitas für alle? ÖPNV für lau? Reiche Eltern für jeden?
Für die letzten fünf Minuten begannen die übrig gebliebenen Kneipengäste hochpolitisch im Jauch'schen Talkrunden-Stil zu diskutieren. Darf man bei einem Spiel gegen Israel die Parole "Sieg" anstimmen? Nach einem Pro-Argument, und dem kurzen Bedenken, dass ja ein rechtsgesinnter Fan ein "Heil" anfügen könnte, kamen sie schließlich doch einstimmig zu dem Entschluss: Man darf. Warum auch nicht. Schließlich hat die Nationalelf ja tatsächlich auch gewonnen. Was der Wirtin wohl zunächst entgangen war, da sie sich mit fragendem Blick zu mir wandte und mich fragte, wie es denn ausgegangen sei. "2:0? Ist ja auch gewonnen!" Na danke für dieses Fazit - und für diesen unvergesslichen Abend.

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