29. Juli 2012

Mit dem Nachtzug nach Kiew

Bereits einen Monat ist es her, als es mit dem Nachtzug nach Kiew zum Europameisterschaftsfinale ging. Zeit, dass Geschehene noch einmal Revue passieren zu lassen.

Eigentlich sollte unser Nachtzug mit Ziel Kiew bereits um 21.50 Uhr auf Gleis 11 am Berliner Hauptbahnhof ein- und losfahren. Doch daraus wurde leider nichts. Statt es sich bereits gegen Mitternacht in den Liegesesseln gemütlich zu machen, musste der harte Bahnhofsboden herhalten. Immer wieder ließen Lautsprecherdurchsagen unsere fußballbegeisterte Reisetruppe aufhorchen. Doch statt einer Ankündigung, dass der Zug endlich kommt, wurden wir mit Wartezeit abgestraft. Erst eine, dann zwei, dann fünf Stunden. Einige warfen bereits früh die Flinte ins Korn und verabschiedeten sich genervt von dem Gedanken eines Stadionbesuchs. Stellenweise waren wir die einzigen Passagiere auf dem Gleis. Schwierig war nicht nur der harte Boden: Auch die Biervorräte gingen so langsam aus. Mit Schuld daran war ein polnischer Greis, der sich mit unvergleichbarem Charme das ein oder andere Bier erschlich. Auf dem Nachbargleis kam – ebenfalls mit Verspätung – der Zug aus Warschau an. Heraus sprangen singende Deutschlandanhänger, die unsere Elf im Halbfinale gegen Italien leider erfolglos nach vorne gepeitscht hatten. Der angeblich „modernste Bahnhof der Welt" bot dem Reisenden nach Mitternacht nicht einmal mehr seine DB-Lounge an. Stattdessen versuchten die Angestellten es mit Verzehrgutscheinen im Wert von 6x2 Euro. Sehr brauchbar, wenn bereits sämtliche Imbisse und Kneipen im Hauptbahnhof geschlossen hatten. Nach einiger Zeit sprach sich der Grund der Verspätung zu uns durch: Das ukrainische Pendant zur Deutschen Bahn hat in freudiger Erwartung einer Riesenanzahl an deutschen Fans zwölf weitere, uralte Waggons an die Lok gehängt, welche von der Deutschen Bahn-Aufsicht für untauglich erklärt wurden. Sprich: Erst wenn die Waggons abgehängt werden, wird der Zug nach Kiew zugelassen. Wird die Bahn uns tatsächlich die Reise nach Kiew verwehren?

Nach 5 Stunden und 40 Minuten fuhr endlich der D-Zug nach Kiew
ein. 
Leider ohne die zwölf Extrawaggons und somit auch ohne den Schlafwagen, den wir gebucht hatten. Doch statt sich dem Schicksal zu fügen und bedröppelt die Heimreise anzutreten, huschten wir einfach an der nur Ukrainisch sprechenden Schaffnerin vorbei und sicherten uns ein Abteil. Glücklicherweise war es unbesetzt – so konnten wir uns, auch ohne das nötige Extrakleingeld einen Platz verschaffen. Was für ein Chaos hätte wohl geherrscht, wenn Deutschland ins Finale gestürmt und eine Unmenge an Fans auf diesen Zug angewiesen wären? In den Abteilen herrschte nur Platz für drei Personen. Auf den Gängen war ein Nächtigen beinahe unmöglich: Kaum ein Rollkoffer konnte problemlos durch sie hindurch gezogen werden. Ich klemmte mich zwischen Gepäckablage und oberstes Stockbett. Ich hatte zirka dreißig Zentimeter zur Decke und wenn es hoch kommt anderthalb Meter zum Ausstrecken. Bei 1,89 Meter Körpergröße gar nicht so einfach. Trotz der Halbfinalniederlage wollten sich auch andere Deutsche das Spektakel „Endspiel" nicht nehmen lassen. Einige machten statt Deutschland anzufeuern einfach zwei Wochen Urlaub in Kiew, andere präsentierten ihre rosa Schalke-Jerseys auf der Kiewer Fanmeile. Wir passierten Posen, Warschau sowie Lublin und überquerten die polnisch-ukrainische Grenze. Hier standen wir geschlagene drei Stunden. Grund: Der Zug musste mit neuen Fahrgestellen versehen werden, da die deutsche Norm nicht mit der ukrainischen übereinstimmte. Dies geschah in einer abgelegenen Halle. Hier hievte ein Kran den kompletten Zug in die Höhe. Während rauchende Bauarbeiter Hand anlegten wurden unsere Pässe kontrolliert. Doch nicht nur das: Auch meine Kamera fiel dem Militär zum Opfer. Ich hätte angeblich Fotos in diesem abgesperrten Areal gemacht, was verboten sei. Glücklicherweise bekam ich sie nach einem langandauernden Monolog des ukrainischen Soldaten wieder. Die ukrainische Bahn dachte zwar an Bettdecken, aber nicht an einen Speisewagen. Bei jedem Halt auf ukrainischem Terrain versorgten uns zum Glück fliegende Händlerinnen mit Knabbereien und Getränken. Sie verkauften lauwarme Pierogi, kühles Bier und meterlangen Trockenfisch. Nur dank dieser Speisen (und selbst mitgebrachtem Nuss-Nougat-Aufstrich) überlebten wir die gut 30 Stunden andauernde Fahrt auf dieser neugeschaffenen Verbindung Berlin – Kiew überhaupt... Nachts um drei Uhr kamen wir in der ukrainischen Hauptstadt an. Glücklicherweise gelang es uns, eine private Wohnung als Unterkunft zu gewinnen. Günstig in einem Plattenbau mit über 200 Wohnungen gelegen und beschaulich eingerichtet, aber dafür zentral gelegen und mit tollem Blick ausgestattet.

Nach einer geruhsamen Nacht auf der Schlafcouch stand endlich der Endspieltag an. Über schier kilometerlange Rolltreppen gelangten wir zur U-Bahn, welche uns zum Ticket Corner, der in der Nähe des Stadions war, brachte. Hier mussten die vorbestellten Karten für das Endspiel abgeholt werden. Es warteten in Rot gekleidete Spanier auf ihre Billets, ukrainische Anhänger ließen sich mit Italienern ablichten und Fans in russischen Jerseys versuchten übrig gebliebene Tickets zum Höchstpreis an den Mann zu bringen. Für uns lief alles glatt. Nur das wir für die Gutscheine für ein Endspiel mit deutscher Teilnahme nun Karten für die Begegnung Spanien gegen Italien in der Hand hielten. Auch nicht schlecht!


Mittags um zwölf Uhr war die Fan-Zone bereits sehr gut gefüllt. Trommler wirbelten auf der Bühne und unterhielten die verschiedenen Fangruppen. Mädchen mit Stutzen und kurzen Hosen verteilten Werbeartikel und animierten zu guter Laune. Eine Sängerin, ein Abklatsch von Shakira, grölte auf der großen Bühne, wo sich im Vorfeld noch ein Deutscher und ein Engländer auf der PlayStation bekämpften. Von überall erklang der Horror-Ohrwurm „Endless Summer" von Oceana und Frauen schminkten Kinder in den Landesfarben der jeweiligen Teams. An einigen Ecken versammelten sich Fans jeglicher Couleur zu gemeinsamen Trinkaktionen. Spanier zogen durch die Straßen und sangen in lauter Vorfreude einem erneuten Sieg entgegen. Ukrainer und Polen gingen Hand in Hand. Deutsche Fans mit Schweinsteiger, Müller oder Gomez auf dem Rücken stimmten im Minutentakt neue Gassenhauer an: Ob „Deutschland, Deutschland!", „Ohne Deutschland wär‘ hier gar nichts los!" oder „Super Deutschland, olé!" – jeder Fangesangfeinschmecker wäre hier auf seine Kosten gekommen. Auch das mittlerweile etablierte „Humba, Humba tätterrää!" (oder doch lieber „Ufta"?) machte immer wieder die Runde. Nur von den italienischen Anhängern hörte man beinahe nichts. Ein Fan aus Greifswald sagte mir, dass „bis zu 25 000 Deutsche" in der Stadt seien. „Von den Spaghetti-Essern (sic!) seien jedoch gerade einmal 3000 da." Neben den angesprochenen Fußballtouristen erkannte man einige Nacktdemonstrantinnen, die schleunigst – und vor allem rabiat – von der Polizei entfernt wurden. Im Gegensatz zu der ca. 50 Meter langen Ansammlung an Infoständen, welche stumm für eine Befreiung Julia Timoschenkos protestierten. Nach einer kurzen Mittagspause mit feinster Rindszunge, fettigem Saumagen, Zwiebelringen, Unmengen an Bier und vielen Gesprächen mit polnischen Fans („Our team sucks, but your team was very good, but: Deutschland, Deutschland alles ist vorbei!") und deutschen Kollegen, die zu viert auf der Hinfahrt einen Großteil ihrer 95 Dosen Bier verbrauchten, ging es in Richtung Kiewer Olympiastadion.


Hier feierten Fans in deutschem Gewand mit rot-gelber Wangenbemalung mit Anhänger in rotem Jersey mit
schwarz-rot-goldener Farbe im Gesicht. Wer hätte das noch 2010 gedacht, als Spanien uns in Südafrika aus dem Turnier schoss? Ein Algerier sprach mich an. Er zeigte auf mein weiß-schwarzes Shirt, hob den Daumen und fügte in gebrochenem Deutsch hinzu: „Ich liebe die deutsche Mannschaft. Ich bin ein großer Fan seit ich diesen Schneider das erste Mal gesehen habe." „Bernd Schneider?", fragte ich ungläubig und bekam die leidenschaftliche Antwort: „Bernd Schneider. Ein wahrer Fußballgott!" Aus meinen Überlegungen, Bernd Schneider vielleicht doch in den Fußball-Olymp zu hieven, holten mich Musiker, die uns noch einmal mit „Smoke on the Water" einheizten, bevor es dann endlich ins Stadion ging. Leider waren unsere Karten mit einer Sichtbehinderung versehen. Ein riesiger Betonblock sorgte für eine schlechte Sicht. Doch war das Stadion, anders als angekündigt, nicht ausverkauft. So konnte sich unsere Reisetruppe einige Reihen weiter unten niederlassen. Hier trafen wir auf viele Fans der deutschen Mannschaft. Wir feierten Jogis Elf, warfen gemeinsam mit Bierdeckeln und stimmten immer wieder „Deutschland, Deutschland"-Rufe an. Ich behaupte, wir versprengten Deutschlandfans haben mehr Stimmung gemacht, als die Anhänger der Squadra Azzurra. Auch auf dem Platz war bei den Italienern tote Hose. Friedrich aus Berlin, der sechs Stunden vor Abfahrt seines Zuges noch gar nichts von seinem Stadionbesuch in Kiew wusste, bescheinigte dem Italo-Star Balotelli eine „ziemlich blasse Vorstellung". Auch Pirlo, Cassano und Buffon erwischten einen rabenschwarzen Tag. Gegen glänzend aufspielende Spanier setzte es eine 4:0-Niederlage. Xavi, Casillas & Co feierten sich auf dem Rasen, die Organisatoren erhellten den Nachthimmel mit einem imposanten Feuerwerk und die Anhänger der Furia Roja jubelten auf den Rängen ihren Helden zu. Anders sah es außerhalb des weiten Rundes aus. Hier feierten die Spanier alles andere als ausgelassen. Es herrschte beinahe Feierroutine. Wie selbstverständlich marschierten sie durch das Turnier und sicherten sich den dritten Titel nach 2008 und 2010. Nur „Cheftrommler" Manolo, der Mann mit der Trommel, welcher angeblich noch kein Spiel der spanischen Mannschaft verpasst hat, war derjenige, der für Stimmung im spanischen Fanlager sorgte. Den Rest an Festivität besorgten – natürlich – die Deutschen. Was für eine grandiose Party wäre wohl gestiegen, wenn Jogis Jungs den Pokal geholt hätten?

Nach einem weiteren Tag Sightseeing in Kiew ging es wieder für geschlagene 26 Stunden in den Zug. Diesmal war jeder Waggon da. Nach lustigen Begegnungen mit ukrainischen Gastarbeitern und einer devoten Schaffnerin waren wir gegen Vormittag mit nur einer halben Stunde Verspätung in Berlin angekommen. Hier hatten wir sogar Gelegenheit unsere Verzehrgutscheine für ein feines Frühstück einzulösen. Welch‘ schöner Abschluss einer tollen Reise!


[Bilder: Tobias Ilg]

Auch erschienen bei SPOX.com.

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